Die Idee
Dieses Buch versucht etwas, das eigentlich unmöglich ist. Es will einen ganzen Tag im Leben einer Stadt einfangen. Das sind vierundzwanzig Stunden, die von einem Sonnenaufgang zum anderen reichen. Aber dieses Buch glaubt nicht daran, dass sich ein Tag aus Stunden oder Minuten zusammensetzt. Er besteht aus Momenten. Sie entstehen immer dort, wo sich für einen Augenblick lang zeigt, was war, was ist, was sein könnte. Wenn es gelingt, diese Augenblicke in Fotografie festzuhalten, dann lässt sich die Zeit darin aufheben. Das ist der Wunsch, der hinter diesem Buch steht. Es will die Zeit anhalten und sie zugleich bewahren. Damit wir später und für immer sagen können – so ist es gewesen, so haben wir gelebt. An einem Tag im September in Berlin.
Die Stadt
Berlin ist die Stadt der Ungleichzeitigkeit. Ihre Vergangenheit ist zerbrochen, geteilt und verheert. Ihre Gegenwart angestückt, aufgesetzt, gnadenlos. Ihre Zukunft scheint in Lücken und Brachen auf. Wie riesige Schollen werden diese Zeitalter von den Kräften der Stadt aufeinander getrieben. In einem Moment kann ein Bruch aufreißen, in dem alle miteinander sichtbar werden und sich im nächsten Moment schon wieder schließen. Das ist die Landschaft, in der die Bewohner dieser Stadt leben, arbeiten, wohnen, tanzen, scheitern, hoffen, sterben. Verbunden nur darüber, dass alles, was ihnen passiert ist, passiert, passieren könnte, hier geschieht. Alles gleichzeitig, aber jedes zu seiner Zeit. Deshalb Berlin. Es gibt keinen anderen Ort.
Die Fotografen
Nach dem Fall der Mauer haben in dieser Stadt sieben Fotografen die Agentur Ostkreuz gegründet. Es ist der Name eines Bahnhofes, von dem aus man in jede Himmelsrichtung aufbrechen kann. Für sie sollte es einen Punkt bezeichnen, von dem sie ausgehen und in dem sie sich immer wieder treffen. Neunzehn Jahre später stellt sich diese Agentur die Aufgabe, sich ihrer Heimat zu vergewissern. Dazu hat sie sechsunddreißig Fotografen versammelt. An einem Septembermorgen des Jahres 2008 sind sie hinausgegangen in die Stadt. Einige sind bestimmten Menschen gefolgt, einige an bestimmten Orten geblieben, einige haben sich treiben lassen. Jeder von ihnen hat eine eigene Linie durch Berlin gezogen. Aus diesen Linien ist am Ende ein Netz entstanden und hat eingefangen, was doch eigentlich unmöglich ist – einen Tag im Leben einer Stadt.
Marcus Jauer